Die lebendigen Stufenpläne

Wir versuchen, mit einer speziell für chronisch mehrfach beeinträchtigte, alkholabhängige Klienten konzipierten Betreuungs- und Versorgungsstruktur allen Bewohnern, die zu uns kommen, gerecht zu werden, ganz gleich wie „stark“ oder „schwach“ sie sind, ganz gleich, welche körperlichen, geistig-seelischen, sozialen und intellektuellen Störungen und Defekte sie mitbringen, ganz gleich, ob sie nun 10 Jahre getrunken haben oder bereits 35, ganz gleich, ob sie nun 25 Entgiftungen absolviert haben oder nur 4, ganz gleich, ob sie bereits vollkommen isoliert und völlig verwahrlost jahrelang in ihren Wohnungen dahinvegetiert haben, ganz gleich, ob sie noch verheiratet sind und Familienanschluss haben, ob sie bis vor kurzem noch gearbeitet haben oder schon seit 15 Jahren arbeitslos sind usw.

Wir arbeiten mit einem Versorgungskonzept, das es uns ermöglicht, passgenau auf den jeweiligen Hilfebedarf des einzelnen Bewohners einzugehen und ihn mit seinem Krankheitsbild und dessen Ausprägung genau dort „abholen“, wo er sich befindet. Bewohner mit größeren Defiziten können mit dieser Betreuungsstruktur genauso adäquat aufgefangen und versorgt werden wie Bewohner mit weniger ausgeprägten Störungen und einem anderen Stand der Suchterkrankung.

Anders gesagt: Ein junger 35-jähriger Bewohner, der noch relativ „fit“ ist und nach kurzem (aber durchaus heftigen) Suchtverlauf noch relativ nahe am Arbeitsmarkt steht, hat einen vollkommen anderen Hilfebedarf als ein 60-jähriger Rentner, der nach jahrzehntelangem Alkoholkonsum und völliger Verwahrlosung in seiner Wohnung zu uns kommt. Eine 39-jährige Alkoholikerin mit Gewalterfahrung und zusätzlichen psychiatrisch auffälligen Störungsbildern (sog. Doppeldiagnose) braucht völlig andere psychosozialen Hilfestellungen und Zuwendungen als ein 56-jähriger „klassischer Trinker“ vom Bau, der schon immer nach Feierabend im Bauwagen seine Bierchen getrunken hat, nun aber schließlich quittegelb mit Leberzhirrose, Bauchspeicheldrüsenentzündung und irren Schmerzen im Akutkrankenhaus behandelt wird und nach Besserung der Leberwerte zu uns verlegt werden soll, weil es „so nicht weitergehen kann“.

Auf den Punkt gebracht: Wir sind der Überzeugung, dass verschiedene Menschen, verschiedene Lebensgeschichten, verschiedene Krankheitsbilder, verschiedene Störungen und verschiedene Lebensperspektiven eine ausdifferenzierte, klientenzentrierte, suchtspezifische und ganzheitlich ausgerichtete Betreuungsstruktur benötigen, um in Form von verschiedenen gestalteten Wohnmöglichkeiten, verschiedenen Beschäftigungsangeboten, verschiedenen psychosozialen Hilfestellungen, verschiedenen Freizeit- und tagesstrukturierenden Angeboten usw. dem Einzelfall, dem Einzelschicksal, dem einzigartigen Menschen mit seiner einzigartigen Lebensgeschichte gerecht werden zu können.

Daher haben wir lebendige Stufenpläne für die verschiedenen Lebensbereiche eingeführt, die hervorragende Hilfeplan-Instrumente sind, insofern sie klientenzentriert und damit passgenau auf den individuellen Hilfebedarf eines einzelnen Bewohners zugeschnitten werden können.

Unsere Stufenpläne „leben“. Sie sind ist nicht starr, in Stein gemeißelt oder eine „tote Theorie“. Sie leben mit denjenigen, die sie umzusetzen versuchen: mit den Bewohnern, den Mitarbeitern, den sozialpsychiatrischen Diensten, den Kostenträgern, den Beratungsstellen, den Angehörigen, den Betreuern, den Ärzten, den Arbeitsanleitern usw. Die Umsetzungsmöglichkeiten der Stufenpläne richten sich vor diesem Hintergrund vor allem danach, wie gut die Zusammenarbeit aller Kräfte funktioniert.

Wir können unseren Bewohnern, ihren unterschiedlichen Krankheitsausprägungen und Störungsbildern, aber auch ihren erhaltenen Ressourcen und ihren Fähigkeiten auf verschiedenen, ausdifferenzierten Hilfebedarfsstufen begegnen und so dem individuellen Unterstützungs- und Anleitungsbedarf gerecht werden.

Die Stufenpläne wurden für alle wichtigen Lebensbereiche unserer Bewohner erstellt: Für den Bereich „Wohnen“, für den Bereich der „Medikamentenverwaltung“, für den Bereich der „Geldverwaltung“ usw. Mit den verschiedenen Stufen können wir sehr gut den indeividuellen Hilfebedarf und damit auch die erforderlichen Unterstützungsleistungen abbilden.

Wir haben z.B. relativ engmaschige Wohnformen für Bewohner, die aufgrund ihrer manifestierten, alkoholtoxischen Folgeschädigungen einen recht hohen Hilfebedarf haben (hirnorganische Störungen, Korsakow-Syndrom, Wernicke-Enzephalopathie, Polyneuropathie, Wesensänderungen, Verwahrlosungstendenzen usw.). Menschen, die auch hin und wieder Orientierungsschwierigkeiten haben, die in den alltäglichen Dingen des Lebens eher unsicher sind, die viel Anleitung und Hilfestellungen benötigen, die ggf. zum Duschen und Wäschewechsel aufgefordert werden müssen, weil sie sonst verwahrlosen usw.  Hier finden u.a. viele Erklärungsgespräche statt, die oft wiederholt werden müssen.

In der ersten Stufe finden sich also eher „schwächere Bewohner“ wieder, die angeleitet und begleitet werden müssen, damit sie sich wieder langsam an einen „normalen“ Tagesablauf gewöhnen (aufstehen, waschen, frühstücken, Teilnahme an der Beschäftigung, Freizeit, regelmäßige Mahlzeiten usw.). Viele der Bewohner in dieser Hilfebedarfsstufe haben oftmals jahrelang völlig isoliert in ihren verwahrlosten und verwilderten Unterkünften „gehaust“, haben sich nicht mehr ordentlich ernährt, waren oftmals Jahre nicht mehr beim Arzt, haben Hautprobleme, Ekzeme, sind mangelernährt, in nicht gutem Allgemeinzustand, haben ein gestörtes Körperempfinden, sind „abgestumpft“, haben kein Hygienebewusstsein, sind ohne Tag-Nacht-Rhythmus, ohne soziale Bindungen oder soziale Anschlüsse, alleine, ohne Arbeit und Beschäftigung. Hier gibt es viel an „Basisarbeit“ zu tun, angefangen von der oft jahrelang vernachlässigten medizinischen Grundversorgung und Ernährung über regelmäßige Aufforderungen zum Duschen und Wäschewechsel bis hin zur Begleitung im Rahmen der Beschäftigungsangebote.

In anderen Wohngruppen sieht es beispielsweise aber schon ganz anders aus: Hier benötigen die Bewohner schon wesentlich weniger Hilfe, Unterstützung und Anleitung im Alltag. Das regelmäßige Duschen und der Wäschewechsel klappt z.B. schon ganz gut, ebenso die eigenständige Zimmerreinigung, die tägliche Teilnahme an der Beschäftigung, die kleineren Einkäufe usw. Die Bewohner, die hier wohnen, sind orientiert, finden die Wege eigenständig, nehmen verlässlich an Gruppenaktivitäten teil, engagieren sich im Rahmen der heiminternen Arbeitsangebote, sind relativ verlässlich im Umgang mit ihrem Geld usw.

In den Trainignswohnungen ist der Unterstützungsbedarf noch geringer als in den kleinen Wohngruppen. Hier geht es in der Lebensbegleitung nicht mehr um regelmäßiges Duschen oder eigenständiges morgendliches Aufstehen oder gar um den Wäschewechsel, sondern in den Trainingswohnungen werden unsere Bewohner im Rahmen verschiedener Belastungserprobungen auf den Auszug in eine eigene Wohnung vorbereitet. Die Betreuungsschwerpunkte liegen vor allem in der Förderung der Selbständigkeit und Selbstversorgung in den Bereichen „Hauswirtschaft“ und „Geldverwaltung“, Unterstützung bei verschiedenen lebenspraktischen Tätigkeiten (Nahrungsmittellagerung, Budgetplanung, verantwortlicher Umgang mit Geld usw.) und die Hinführung zur beruflichen (Re)Integration in Form von Arbeitsvermittlung und Bewerbungstraining.

Während die Bewohner in der ersten Hilfebedarfstufe recht engmaschig „versorgt“ und begleitet werden, d.h. von den Beschäftigungsangeboten, der Zeiteinteilung, der Vorgabe der Tagesstruktur bis hin zur  Verpflegung, Wäschereinigung und psychosozialen Betreuung, müssen sich die Bewohner in fortgeschritteneren Hilfebedarfstufen in unseren Wohngruppen schon um ganz viele Dinge eigenständig kümmern (Wäscheorganisation, Hygienebewusstsein, Wohnungsreinigung, Mahlzeitenzubereitung, Einkauf, Lebensmittellagerung, Geldverwaltung usw.). Die Bewohner unserer Außenwohngruppen sollen dabei insbesondere lernen, ihre individuellen Fähigkeiten zu nutzen, Eigenaktivität, Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein für sich und die Gruppe zu entdecken und auszubauen. Sie sollen die Möglichkeit haben, zu üben, Problemsituationen ohne Suchtmittel zu bewältigen. Sie sollen (wieder) eine realistische Selbsteinschätzung gewinnen und die eigenen Fähigkeiten an dieser Selbsteinschätzung überprüfen. Sie sollen alle lebenspraktischen Dingen wie z.B. Körperpflege, Waschen, Pflege der Wäsche und Bekleidung, Reinigung der Räumlichkeiten, Küchen- und Einkaufsdienst eigenständig und möglichst ohne Hilfe bewältigen. Sie sollen sich Kompetenzen im Bereich der allgemeinen Lebensführung aneignen, den Tag möglichst frei von externen Hilfen eigenständig ordnen und strukturieren lernen und die Möglichkeiten einer sinnvollen und suchtmittelfreien Lebensgestaltung erleben.